Heroinen.Auszug aus einem kollektiven feministischen Tagebuch 


Seit Sommer 2020 schreibt die ARMADA OF ARTS ein kollektives feministisches Tagebuch, um sich über ihre Alltagserfahrungen lose auszutauschen und im Gespräch zu bleiben über Themen, die sich für ihre künstlerische Zusammenarbeit daraus ergeben können. Einige Auszüge erschienen im Logbuch Suhrkamp.

 

17.9.2020 ROBYN: Heute einen Gesprächsfetzen gehört vor Rewe, zwischen zwei leicht aggressiven Personen: »Lass uns reden, von Mann zu Mann«. Ich habe das schon so oft gehört, diese Wendung so verinnerlicht, dass es mir fast schwerfiel, darüber mal gründlich nachzudenken. »Von Mann zu Mann« meint wohl: ehrlich und schonungslos etwas zu klären? Wenn ich »von Frau zu Frau reden« bei Google eingebe, kommt direkt die Seite einer Frauenärztin.
Ich bin es so leid manchen Männern zuzuhören. Denen, die mit so einer Selbstverständlichkeit in den Raum schießen, mit diesem Urvertrauen, zu allem sprechen zu können, in der Annahme, dass es auf jeden Fall interessieren wird. Labern, labern, erklären, sich wiederholen, andere wiederholen. Wie oft erzählen mir Freundinnen, dass sie ein schlechtes Gewissen haben, weil sie dies oder das gesagt haben, dass sie unsicher sind, ob XY das richtig verstanden hat, ob es nicht zu heftig war usw. Von meinen Freunden höre ich diese Selbstzweifel wirklich, wirklich selten.
Ich wurde schon so oft von Männern zugelabert. Mittlerweile krieg ich da sowas wie eine allergische Reaktion: Mir bleibt die Luft weg, ich werde nervös und mir wird richtig übel davon. Immer wenn ich das Zulabern zugelassen habe, fühlte ich mich danach irgendwie dreckig. Benutzt. Seitdem unterbreche ich ziemlich rigoros, weil ich so Angst vor diesem Gefühl »danach« habe. Total irre, weil es ja eigentlich nur Worte sind. Aber der Effekt ist trotzdem sehr gewaltsam.

19.9. 2020 ICKE: Ich lasse meinen Damenbart wachsen. Seit langer Zeit lasse ich das mal wieder zu, diese Freiheit sich selbst »zu verunstalten«. Ich mag ihn gerade. Das gelingt mir selten. Das tut mir gut.

23.9.2020 QUEENKONG: Ich war joggen im Volkspark Friedrichshain. Ein anderer Jogger kommt mir entgegengerannt. Schon von Weitem ist zu erkennen, dass er sehr trainiert ist. Der Weg ist breit, es gibt viel Platz. Noch sind wir einige Meter voneinander entfernt, ich laufe jetzt schon mal zur Seite, damit wir problemlos aneinander vorbeikommen. Er läuft auf die gleiche Seite wie ich. Ich laufe noch weiter zur Seite. Er reagiert, indem er wieder auf dieselbe Seite läuft. Spätestens jetzt ist klar: Er will riskieren, dass wir zusammenstoßen, er sucht körperliche Nähe. Ich schaue mich um. Es ist der helle, freundliche Teil des Parks, aber wegen des regnerischen Wetters ist niemand zu sehen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Mein Körper spannt sich. Ich versuche weiter auszuweichen, er schneidet mir den Weg ab. Als er mich erreicht, drückt sein Arm sich in meine Schulter, mit öliger Stimme raunt er mir ins Ohr: »Guten Tag«. Und ich? Ich rufe: »Fuck you!« O.k., er ist schon ein paar Meter hinter mir, aber trotzdem, es gibt eine gute Chance, dass er das gehört hat. Ich habe mich gewehrt, ich habe ihn beleidigt. Ich habe höllische Angst, dass er umdrehen und mich fertigmachen wird. Ich renne wie auf heißer Lava.

24.09.2020 KASSANDRA: Neulich war meine Mutter zu Besuch. Sie hat manchmal auch ein komisches Bild von Frauen. Als ich ihr in der Schwangerschaft von meinen Dehnungsstreifen erzählte, fragte sie mich, ob meinen Partner das stören würde … ich war schockiert. Diesmal fragte sie mich, warum ich denn keinen BH trüge. Und dass dadurch meine Brüste vielleicht komisch aussähen. Ich sagte ihr, dass ich da im Moment keinen Bock drauf habe, weil mir alles weh tat, am Anfang mit dem Stillen und so. Aber danach war ich verunsichert. Obwohl ich meinen Körper gerade wieder total mag. Auch ohne BH.

1.10.2020 ICKE: Hatte zuletzt einige Diskussionen warum so viele Typen, inklusive der an meiner Seite, sich so wenig bis schlecht emotional reflektieren – wie kommt das? Und warum fühlt es sich dennoch so saublöd »ergänzend« an? Dass ich mich insgeheim bei dem Gedanken erwische: Na ja, gut, dass er jetzt nicht auch noch so emotional wird wie ich? AAArgh, blöde soziale Konstruktionen.
Will ich sie? Die weinenden, nachdenklichen, bescheidenen, hingebungsvollen, sich selbst kritisch betrachtenden Männer? JA! JA! JA! Verdammt.

14.10.2020 ROBYN: Mein Partner war heute mit Kindern im Wald, und die haben zaubern oder so gespielt. Er hat erzählt, dass ein Mädchen meinte, nee, ihr seid Zauberer (mein Partner und mein Sohn) und sie könne ja kein Zauberer sein, sie sei eine Hexe. Zauberer sind eigentlich immer Männer (Gandalf, Dumbledor, von Oz, Rasputin), bei Zauberern erfahren Spiritualität und übernatürliche Kräfte große Anerkennung. Sie sind die Weisen. Das Pendant wäre dann wohl die Hexe, nur viel negativer konnotiert (zumindest aus männlicher Perspektive: Frau mit Schadenszauber, verbunden mit dem Teufel …). Zu »Zauberin« gibt es keinen Wiki Eintrag. Aber es gibt eine ellenlange Liste von hingerichteten (verbrannten!) Hexen. Sie sind wir und wir sind sie. Alle unsere Urvorfahrinnen. I am every woman!

17.10.2020 QUEENKONG: Meine Mutter ist Hausfrau (fünf Kinder), mein Vater verdient das Geld. Neulich bekamen wir Fünf alle eine Email mit der Nachricht, dass sie uns etwas Geld schenken wollen um uns in Corona-Zeiten zu unterstützen. Unsere Bankverbindungen sollten wir meinem Vater geben. Er wollte das Geld überweisen, klar. Es liegt ja auf seinem Konto. Bei einem Treffen gestern habe ich mich dann bei meinem Vater persönlich bedankt. Meine Mutter schoss beleidigt aus ihrem Stuhl hoch: »WIR haben euch das Geschenk gemacht. Es ist UNSER Geld.« Sie hat ihm den Rücken freigehalten für die Karriere, also gehört das Materielle ihnen gemeinsam, und wenn etwas verschenkt wird, gebührt der Dank ihr genauso wie meinem Vater, so sieht sie das. Warum fährt sie dann immer ein kleines, gebrauchtes Auto und mein Vater ein größeres, neues? Warum überweist er ihr dann jeden Monat Geld anstatt ihr einfach denselben Zugriff auf die Konten zu erlauben? Meine Mutter mag ihre Rolle nicht und hat doch nie die Kraft gehabt, sich daraus zu befreien. Sie tut mir leid, und gleichzeitig vermittelt sie so stark die Opfer-Rolle, dass ich mich schuldig fühle sobald ich sie sehe. Das macht es mir schwer, mich mit ihr zu solidarisieren. Die Kompliziertheit meiner Beziehung zu ihr hat auf jeden Fall mit den Geschlechterrollen zu tun.

24.11.2020 ROBYN: Ich bin gestern nach Hause gelaufen, es war schon spät, also stockduster. Vor mir lief ein Mann, der dann in eine Sackgasse einbog, die an der Spree endet. Ich hatte das Gefühl, dass er glaubte, dass ich ihm »folgte«, dabei lief ich ja nur nach Hause. Habe mich gefragt, ob er jetzt auch so eine krasse Angst hat, der Atem ihm stockt, all das was ich manchmal empfinde, wenn ich weiß, dass jemand hinter mir ist, aber mich nicht umdrehen will? Ehrlich gesagt habe ich diese Situation ein bisschen genossen, auf so eine echt fiese Art. Diese vermeintliche Überlegenheit, Macht, selbst mal einem Typen Angst einjagen zu können, den Spieß umzudrehen, einfach mal, damit der versteht, wie übel sich das anfühlt, nachts eigentlich permanent Angst zu haben. Habe dann noch ein bisschen mit meinen Schlüsseln hinter ihm geklappert. Hähä. Aber wahrscheinlich hat den das gar nicht gekümmert. Ich bin schon so oft vor Typen weggerannt. Und noch nie ein Typ vor mir. Also zumindest nicht, weil er Angst vor meiner körperlichen Überlegenheit hatte.

02.12.2020 KASSANDRA: Ich habe so Lust, mal wieder feiern zu gehen und mich zu betrinken. In diesen tristen Tagen. Alles ist so leise geworden, die Straßen sind leer. Und wenn ich jetzt in Filmen Leute sehe, die in Bars sitzen oder auf Konzerten sind, denke ich: »Das ist lange her, das gibts ja jetzt gar nicht mehr …« Ich begegne gerade wirklich wenig Menschen und mache nicht viel. Hatte vor einer Woche einen totalen Nervenkollaps. Ich war übernächtigt und der Kleine war extrem anstrengend, mein Partner hatte Uniseminar, online natürlich. Ich bin rausgegangen mit dem Kleinen und habe nur noch geweint. Ich dachte: »Ich kann nicht mehr, ich bin gar nicht mehr vorhanden. Ich kann nicht einfach weggehen, allein, ich bin überfordert.« Habe dann versucht, mit meinem Freund darüber zu reden. Er konnte es nur halb verstehen. Hat mich immer wieder gefragt, wie er mich noch entlasten kann. Aber ich bin ja nun mal Mutter, ich bin die, die stillt, ich kann nicht einfach gehen, nicht mal in der Theorie. Das unterscheidet mich von ihm als Vater. Einfach diese Gewissheit, dass jemand komplett abhängig von dir ist … ich glaube, das kann er einfach nicht verstehen, dieses Gefühl, ich finde es auch schwierig, das zu beschreiben.

13.12.2020 QUEENKONG: Heute beim Aufräumen einen alten Laptop in der Hand gehabt. Ich erinnerte mich daran, dass er mir damals von einem Bekannten gegeben wurde, der ihn wiederum von seinem verstorbenen Vater hatte. Dieser Vater war ein bekannter Schriftsteller, gilt als Intellektueller. Der Bekannte hatte die digitalen Spuren seines Vaters vom Laptop gelöscht – dachte er. Als ich jedoch meine erste Google-Suche startete, erschien im Suchverlauf »junge saftige Löcher«. Seither kann ich den Namen des Vaters, der in Akademikerkreisen mit ehrfürchtig-raunender Stimme ausgesprochen wird, nicht mehr hören, ohne dass in meinem Kopf die Worte »junge saftige Löcher« aufblinken. Als ich diesen Sucheintrag fand, spürte ich Vieles gleichzeitig: Scham, Ekel und Amüsiertheit. Mein Verhältnis zu Pornografie ist gespalten. Einerseits sind Lust und Masturbation schön. Aber fördert die digitale Dauerverfügbarkeit der emotionslosen Mainstream-Pornos nicht den Blick auf den menschlichen Körper als Objekt? Ich denke an die vielen Männerblicke, von denen ich mich ausgezogen und anatomisch vermessen gefühlt habe, an die zahllosen Gespräche mit Männern, bei denen ich das Gefühl hatte, dass sie, anstatt mir zuzuhören, damit beschäftigt waren, mich in Gedanken zu vögeln. Der Vater meines Bekannten hat zu allen Alltagsdingen etwas zu sagen gehabt. Warum hat er nichts zu Pornografie geschrieben, da sie doch ein wesentlicher Bestandteil vor allem des männlichen Alltags ist?